10
Apr
2008

SEELENWANDERUNG

Als ich die Schicht übernahm, wurde es bereits dunkel. Kampf der Laternen gegen den schwindenden Tag. Patt im Dämmerlicht. Du sagtest, wenn wir schlafen, verlassen unsere Seelen den Körper. Ganz nebenbei sagtest du das, so als ob ich das schon längst wüsste, als ob jeder das wüsste. Ich wusste es nicht. Aber ich hatte oft einen Verdacht, dem ich nie folgte - zu schnell stürzte ich ins Wachsein.
Die Tür fiel ins Schloss hinter dir. Ohne Fragen, keine Antworten. Ruhigen Dienst ...

Patrouille auf nächtlichen Fluren. Alles schläft, keine Menschenseele. Ich begegne ihr in der dritten Etage. Sie schlendert von Tür zu Tür, liest die Namensschilder, schüttelt hin und wieder den Kopf. Ich beobachte sie eine Weile, gebe mich zu erkennen. Bist du schon lange hier, fragt sie. Ja, ich habe auf Sie gewartet. Wir gehen langsam zum Fahrstuhl. Warum hast du nicht wieder geheiratet? Du bist doch noch jung. Ich hole tief Luft und bevor ich antworten kann, lacht sie schon wieder ... Verstehen ohne Worte. Seelenverwandtschaft?
Ich bringe sie zu Bett, zum zweiten mal in dieser Nacht. Schlaf schön mein Engel und träume süß ...

Die Nacht trollt sich, macht dem Tageslicht und der nächsten Schicht Platz. Ruhig war es heute. Nicht viel, was ich in den Feierabend mitnehmen muss - eine leere Thermosflasche, eine leere Brotdose ... Der Morgen ist kühl, aber mir wohl gesonnen. Kein Nebel, kein Kratzen an der Windschutzscheibe, eine Umleitung wird ignoriert - ich kenne sie, sie kommt jeden Donnerstag hier vorbei. Nur noch ein kurzes Stück durch den Frühling und ich bin zu Hause. M. ist schon auf dem Sprung, kurz vor dem Urlaub. Blumengießstrategien, Schlüsselübergabe. M. hat Sehnsucht nach der Sonne und der Wärme am Mittelmeer. Mir reicht fürs erste die Wärme meines Bettes.

Keine Sperenzchen, Katzenwäsche, Decke über die Nase. Manchmal kann ich es fühlen, das Einschlafen. Sanftes Fallen, ganz leicht werde ich ... mehr als sechzig Kilo, die nicht zu mir gehören. Wie war das doch gleich mit den Seelen, wenn wir schlafen?
Ich versuchte mir vorzustellen, wo sie wohl hingehen. Treffen sie sich alle irgendwo, oder geht jede woandershin? Schlüpfen sie in einen anderen Körper oder hocken sie in den Bäumen? Wohin geht meine? Geht sie oder fliegt sie? Wie ist das, wenn ich nicht schlafen kann? Weiß die Seele dann nicht wohin? Und wenn ich nach kurzer Zeit wieder aufwache, ist sie dann nur bis ins Nachbarhaus gekommen?

Manchmal verschlafe ich auch ...


................................................
liesmal - 11. Apr, 00:12

Was für eine schöne Geschichte, was für angenehme Bilder, was für ein krönender Schluss!
Ich möchte mich gerne mit dir treffen, zur Not auch in Bäumen. Wir könnten ein wenig fliegen und wenn wir nicht wissen wohin - also schlaflos - könnten wir erst recht zusammenhocken. Auch im Nachbarhaus, mit nur kurzem Schlaf(!), bin ich bestens bekannt (ächz...). Und nach so richtigem Verschlafen waren wir bestimmt lange zusammen unterwegs... :-)
Hellwach gähnende Grüße schlüpfen zu dir und schicken freudigen Dank für die Geschichte!

Luna in flagranti - 12. Apr, 18:44

Hallo liesmal ... tief seufz ... ja irgendwann klappt es mal wieder. Schön, dass ich dich in der Geschichte finden kann. LG
bonanzaMARGOT - 11. Apr, 17:05

nichts ist mir als nachtwache wichtiger als die ruhe,

und die tranportierst du in deinem text ganz wunderbar.
ich möchte sie auch transportieren, für mich und die alten, wenn ich in den nachtdienst gehe. nicht immer schaffe ich es.
ich glaube, die seele fliegt immer, nicht nur im schlaf; aber der schlaf läßt uns abheben oder sinken, was ganz egal ist, denn die schwerkraft des lebens und der zeit bröckelt weg. wir dürfen fliegen, oder wir fallen - oft werden wir auch hinein in einen alpdruck geschleudert wie in eine finstere höhle ... oder wir irren durch labyrinthe des zwischenreichs ...

ein schöner gedanke, wegfliegen zu können. wenn ich morgens nach der nachtwache im bett liege, fühle ich mich manchmal wie schwebend, kurz bevor ich einschlafe.

man würde ja schon gern einiges im leben verschlafen.
es ist nicht so einfach, mut zu haben.

Luna in flagranti - 12. Apr, 18:51

"... oft werden wir auch hinein in einen alpdruck geschleudert wie in eine finstere höhle ... oder wir irren durch labyrinthe des zwischenreichs ...", ja auch das habe ich gesehen, kann es nur noch nicht in Worte fassen. Oder ich verdränge es. Ich weiß nicht. Richtig, es ist nicht so einfach, Mut zu haben. Es gehört auch Mut dazu, sich Ängsten zu stellen - denen der anderen und noch mehr, den eigenen ...
LG
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