USEDOM
aktuelle webcam-Aufzeichnung vom Hotel Seerose aus
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Wie viele Schritte sind es bis ans Meer?
Die Begrüßung
“Wie viele Schritte sind es bis ans Meer?” frage ich meine Wirtsleute zur Begrüßung und locke sie auch heute noch mit diesen Worten aus ihrer norddeutschen Reserve. Ein herzliches Lachen ernte ich “Schön, dass Sie wieder mal hier sind. Wen haben Sie denn diesmal mitgebracht?” Grinsen als Antwort, auch als Antwort auf die Antwort.
Wir kennen uns, seit Jahren.
Noch bevor ich mein Gepäck ins Quartier bringe, führt mich mein Weg ans Meer. Mein erster Weg führt mich immer ans Meer, alte Gewohnheit - fast schon ein Ritual.
Ganz langsam gehe ich die Straße hinunter zum Strand. Etwa einen Kilometer ist sie lang. Ich zähle meine Schritte.
Die Straße zum Strand mündet in den Dünen und auf den letzten Metern gibt sie einen kleinen Ausschnitt frei auf das Meer. Dann, auf gleicher Höhe mit den Dünen, erschließt sich das gesamte Panorama. Zur Rechten dehnt sich unendlich heller Strand, geradezu und liegt das Meer in seiner scheinbar grenzenlosen Weite und linkerhand krönen hohe Buchen die Steilküste.
Ich bin am Strand. Die letzen Schritte bis zum Wasser zelebriere ich. Ich bücke mich zum Wasser, es kommt einer tiefen Verbeugung nahe, halte meine Hände über die Stelle, wo sich eben noch die Brandung vom Strand zurückzog - nur wenige Zentimeter über dem feuchten Sand. Ich warte. Warte darauf, dass das Meer zurückkommt, meine Handflächen berührt. Wie streichelnd fahre ich über die heran rollende Welle, tauche vorsichtig meine Hände ein - immer wieder...
Ins Spiel versunken bemerke ich nicht, wie eine größere Wellen auf den Strand zu kommt. Zu spät, ausweichen kann ich nicht mehr, sie steigt in meine Schuhe.
Gischt spritzt hoch, benetzt Gesicht und Arme - salziger Meereskuss. Na, wenn das keine freudige Begrüßung ist! Lachend ziehe ich die nassen Schuhe aus, knote sie an den Schnürsenkeln zusammen und hänge sie mir über die Schulter. Barfuss erwarte ich die nächste Welle. Sie greift schon nach meinen Knöcheln, lockend.
Komm, komm, komm ... ist das langgezogene Rauschen des Meeres zu hören. Die Sonne schwimmt als großer roter Ball hinter der Seebrücke auf dem Wasser. Nur noch eine halbe Stunde, dann wird sie im Meer versunken sein.
Der erste Abend am Meer
... gehört mir ganz allein, auch das ist ein Ritual.
Ich gehe der untergehenden Sonne entgegen, den Blick fest an den Boden geheftet. Ich suche. Ich suche das Glück - in Form eines Steines, eines ganz besonderen Steines. An Usedoms Stränden gibt es nicht so sehr viele davon, es ist schon doppeltes Glück, einen solchen zu finden. Aufmerksam tasten meine Augen den Strand ab. Nichts. Ich ärgere mich über die Akribie, mit der ich das Glück zwingen will, anstatt mich an dem herrlichen Farbenspiel am Himmel zu erfreuen.
Hinter mir höre ich eine Stimme. Ich glaubte mich allein am Strand, bin so vertieft, dass ich alles um mich herum vergesse, nicht wahrnehmen will.
“Was suchst du?” Die Stimme ist nun direkt hinter mir - eine angenehme Stimme, jungenhaft frech, mit einem leisen Anflug von Lachen im Unterton. “Hast du was verloren?”
Stummes Nebeneinander. Ein paar Schritte, Stein anvisieren, bücken, Stein aufheben, ihn untersuchen - kein Hühnergott? ... Ab damit ins Meer!
“Was ist mit den Steinen und warum wirfst du sie ins Meer?“ fragt die Stimme neben mir.
Noch bevor ich antworten kann, entfährt mir ein Jubelschrei!
Endlich! Zwischen Daumen und Zeigefinger halte ich ihn, meinen Glücksboten. Er ist nur klein und auch das Loch in ihm ist nur stecknadelkopfgroß. Egal, ich habe einen Wunsch frei. Mein rechtes Auge kneife ich zu und suche mit dem linken durch das Loch in dem Stein den Himmel ab. Ein letzter dicker Sonnenstrahl fällt mir direkt ins Auge und ohne dass ich lange nachdenken muss, schicke ich meinen Wunsch durch das Tor zum Glück.
“Ein Hühnergott?”, stellt die Stimme fest, fast etwas verwundert. “Schnell, wünsch dir was!” Beruhigt schlendere ich weiter, nun kann ja nichts mehr schief gehen ...
Auf den Buhnen,
die weit in das von der untergehenden Sonne tiefrot gefärbte Meer reichen, warten Möwen auf die Nacht. Ich suche nicht mehr im Sand nach Steinen, jetzt will ich nur noch genießen - das Farbenspiel am Himmel, das Schlaflied des Meeres, das Rauschen des Windes in den hohen Buchen und die würzige Seeluft. Meinen kostbaren Stein halte ich fest in der Hand. Stille.
Es wird Zeit, zurückzugehen. In Höhe der Fischerboote meldet sich die Stimme wieder zu Wort: “Kennst du die Geschichte von der Bernsteinhexe? " Kurze Pause. Dann: “Komm, ich erzähle sie dir.”
Ungeschickt klettere ich in das Boot. Das alte Holz ächzt. Schließlich kauere ich mit angezogenen Knien im Bug des Kahns, den Kopf in die Hände gestützt und lausche in die Dunkelheit, die langsam alles verschlingt - den Strand, das Meer, die Sage von der Bernsteinhexe, auch die Stimme ... Immer leiser wird sie, kaum noch zu hören. Schließlich geht sie völlig unter im Duett von Meer und Wind.
In Gedanken versunken summe ich vor mich hin. Unbemerkt werde ich immer lauter ... Wild horses couldn’t drag me away, wild, wild horses ...
Sie galoppieren durch meinen Kopf, hinterlassen Spuren.
Schritte knirschen im Sand,
kommen näher. “Ach, hier bist du!? Was machst du denn hier allein? Hast du Kopfweh?” Noch bevor ich die Kühle der Nacht spüren kann, legst du mir deine Jacke um und nimmst mich in den Arm.
“Ich hatte eine Verabredung” sage ich leise, während ich mir den Sand von den Füßen streiche und meine Schuhe wieder anziehe. Ungläubig, fragend siehst du mich an und lächelnd flüstere ich “... mit meiner Erinnerung.”
Ich weiß bis heute nicht, wie viele Schritte es bis ans Meer sind, ich werde wohl wiederkommen müssen!
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Luna in flagranti - 16. Jun, 22:53